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Francisco de Goya: Desastres de la Guerra, Blatt 26: Man kann es nicht ansehen, 1810-1815; Radierung, Lavis poliert, Kaltnadel, Grabstichel; 14,5 x 21 cm, Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft

„Wir werden jeden Tag überfallen mit Bildern von Gräueltaten“

30. April 2014

Die Wunde als Bildkonzept christlicher Passionsvorstellungen – Sammlung 05/14

Mit der Darstellung der Leidensgeschichte Jesu sind Wunde, körperlicher Schmerz und Verletzung in der abendländischen Kulturgeschichte bildwürdig geworden. Die interessantesten Bilder um die Passion Jesu sind darauf ausgerichtet, das Dargestellte in höchster Intensität zu vergegenwärtigen. Aus dieser Absicht ist eine eigene, komplexe Bildsprache hervorgegangen, um dem bildlichen Ausdruck Eindringlichkeit zu verleihen und den Betrachter in das Bildgeschehen hineinzuziehen. Die Wunde selbst wird so zum Bildprinzip. Die Ausstellung präsentiert die Wunde als Bildkonzept christlicher Passionsvorstellungen wie auch in der Kunst von Moderne und Gegenwart (seit dem 18./19. Jahrhundert). Prägnante Konstellationen und Kontraste geben Gelegenheit, unterschiedlichen Facetten der Wunde als Motiv und Bildprinzip sowie Etappen, Brüchen und Übergängen in ihrer Entwicklungsgeschichte nachzugehen. trailer sprach mit den Kuratoren Prof. Dr. Richard Hoppe-Sailer vom Kunstgeschichtlichen Institut der RUB und Prof. Dr. Reinhard Hoeps von der Arbeitsstelle für christliche Bildtheorie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.

trailer: Leiden und Sterben sind keine signifikant christlichen Erfahrungen. Was macht die Passionsimagination so außergewöhnlich?
Prof. Dr. Reinhard Hoeps:
Dass so etwas wie Leiden und Schmerzen in unserer Kultur dargestellt werden kann. Daran hat das Christentum einen nicht unbedeutenden Anteil. Weil gegenüber der antiken Kunst, die das als Darstellungsform eigentlich nicht kennt – die Körper sind dort immer ganz und heile –, das Christentum das Leiden als Bildform entwickelt hat und dass Darstellungen von Schmerz, Leid und Quälerei bis zum Tod gerade dargestellt werden müssen, wenn man das Wesentliche des Christentums darstellen will.

Hat sich die Rezeption der Bildinhalte im Laufe der Jahrhunderte verändert?
Prof. Dr. Richard Hoppe-Sailer:
Natürlich. Weil die kulturellen Zusammenhänge und die historischen Kontexte völlig anders geworden sind. Das merkt man bei ganz vielen Exponaten dieser Ausstellung, und wir werden auch in dem Begleitmaterial und im Programm immer wieder darauf eingehen. Auch am Beispiel der hier gezeigten 15 Blätter aus den „Desastres de la guerra“ von Goya, wo das auf der einen Seite eine fast überzeitliche Darstellung des Grauens, des Krieges ist, sie tatsächlich aber nur verständlich wird durch die spezielle Situation in Spanien. Ich denke, das ist so ein Wechselverhältnis von allgemeiner Gültigkeit und jeweiliger historischer Aktualisierung. Das zieht sich als eine der Grundideen durch die Ausstellung und legitimiert die Vorstellung, dass wir moderne und alte Kunst miteinander in Kontakt bringen.

Blicken die Menschen heute – wo das Christentum nicht mehr so eine elementare Rolle spielt – mit anderen Augen auf die mittelalterlichen Darstellungen?

Hoeps:
Ja, das erwarten wir auf jeden Fall durch diese Kombination mit Werken der Moderne, in denen auch so etwas wie Verletzung und Schmerzen dargestellt wird, dass dadurch die Werke des Mittelalters noch mal in ein anderes Licht gerückt werden. Was nicht unbedingt voraussetzt, dass man ein gläubiger Christ sein muss, um sich das anzusehen.
Hoppe-Sailer:
Ich glaube, das geht deshalb so gut, weil wir in den Werken der Moderne auf die sinnliche Präsenz von Verletzung und Schmerz gestoßen werden. Das fängt mit Giuseppe Spagnulo an, das findet man bei Arnulf Rainer, das findet man bei Heinrich Koch im „Splitterlaib“. Der dadurch geschulte Blick wird auch auf die anderen historischen Kunstwerke anders blicken und deren sinnliche Präsenz noch mal in den Vordergrund rücken – gegenüber dem erzählerischen Aspekt, den das Ganze dazu hat.

Aber ich denke mal, ein Votivbild des Mittelalters hatte damals eine andere Funktion als heute im Museum.
Hoeps:
Ja, das hatte damals eine andere Funktion, aber von der Theologie her müssen wir sagen, das diese Funktion zu verstehen eine Aufgabe ist. Wir verstehen die Funktionsweise eigentlich noch nicht gut genug. Wenn wir geschult durch das Schauen von Werken der Moderne, also was Max Imdahl „sehendes Sehen“ genannt hat, wenn man sich mit einem solchen Blick diese Votivbilder anschaut, kann man vielleicht viel mehr herausfinden, wie diese Bilder funktionieren, als wenn man nur historische Erklärungen dazu hat.
Hoppe-Sailer:
Wir haben zum Beispiel eine ganze Abteilung mit Andachtsbildern aus unterschiedlichen Jahrhunderten. Die haben sehr viel mit religiösem Gebrauch, mit religiösem Vollzug zu tun. Wir glauben aber auch, dass wir selbst historisch noch viel zu wenig über diese Aspekte wissen und jetzt einen möglichen zusätzlichen Schlüssel anbieten.

Was macht die postmoderne Kunst anders?
Hoppe-Sailer:
Die erste Frage wäre, ob es postmoderne Kunst überhaupt gibt. Ich glaube, Postmoderne ist, wenn man es genau nimmt, eine Entwicklung, die in den Bereichen der Architektur und Literatur eine Rolle gespielt hat. In weiten Bereichen der bildenden Kunst, denke ich, dass wir in einer weiteren Ausdifferenzierung der historischen Moderne sind, also der klassischen Moderne. Von daher glaube ich auch nicht, dass wir hier davon reden können, dass wir mit postmodernen Positionen arbeiten.

Ist das Konzept Wunde heute in der Gesellschaft noch vorhanden?
Hoeps:
Ich meine, mehr denn je. Ich meine, wir werden jeden Tag überfallen mit Bildern von irgendwelchen Gräueltaten irgendwo in der Welt. Wir nehmen diese Bilder so hin und es gibt am Rande so Phänomene wie: Darf man Leichen zeigen oder nicht, oder was darf man überhaupt? Das sind aber eigentlich nur kleine Ecken eines grundsätzlichen Problems, wie kann man das Leiden, um das es da in den Nachrichten geht, bildlich, authentisch zum Ausdruck bringen, dass es nicht abstumpft, dass es nicht voyeuristisch ist. Diese Frage stellen sich viele Menschen, die heute so eine Kriegsberichterstattung machen. Das sind aber auch Fragen, die sich Künstler stellen, im klassischen Sinne, mittels Skulpturen und Malerei. Und das sind Fragen, die sich die Künstler der mittelalterlichen Werke gestellt haben, denn dazu reichte es nicht, einfach nur realistisch zu sein. Realismus muss sein, aber wie man gerade bei Goya sehr gut sehen kann, muss auch eine Form des ästhetischen Spiels zwischen Nähe und Distanz stattfinden, damit auch wirklich etwas authentisch herüberkommt.
Hoppe-Sailer:
Ich denke, da spielt auch noch der Aspekt dieser Konfrontation zwischen moderner und historischer, frühneuzeitlicher und mittelalterlicher Kunst eine Rolle. Man könnte sagen, die Moderne hat mit der Autonomisierung der Kunst die Verbindlichkeit verloren, die wir vielleicht durch die engen Einbindung der Bildwelten der frühen Neuzeit oder des Mittelalters gewohnt sind. Ich könnte mir vorstellen, dass die Ausstellung in der Konfrontation auch umgekehrt wirkt, also dass die offensichtlich auf den ersten Blick viel näherliegende Unmittelbarkeit, Direktheit, Ernsthaftigkeit in der Auseinandersetzung, die man älteren Bildern unterstellt, auf einmal auf die Bilder der Zeitgenossen abfärben oder deren nicht mindere Ernsthaftigkeit noch mal in einem neuen Licht erscheinen lässt. Wenn das gelingt, wird es eine wechselseitige Befruchtung geben.

Aber hat denn insbesondere die Wunde Christi, wenn man es mal so formuliert, nicht völlig die Konnotation verloren für die Menschen heute? Nicht als Blick, sondern auch als Bedeutung?
Hoeps:
Das kann schon sein, obwohl, ich bin im Münsterland tätig, da ist das noch nicht so (lacht). Im Ruhrgebiet sicherlich. Aber diese Wunde hat ja auch eine größere Bedeutung und ein größeres Bedeutungsspektrum, als es die meinen, sie wüssten, was sie bedeutet. Im Mittelalter war es auch nicht so, dass es eine Bedeutung gab und das war es dann. Daran entwickelt sich das theologische Denken und gleichzeitig die Bildnerei. Erst mal war es der Ursprung des Sakraments und danach war es wie eine Pforte, durch die man durchfinden muss, um zur Erlösung zu kommen. Das ist wieder eine geschichtliche Entwicklung, die in irgendeiner Weise vielleicht eine Fortsetzung findet, ohne dass eben eine bestimmte dogmatische Bedeutung dahinter steht, weshalb Bilder im Mittelalter eigentlich nur deswegen gut sind und funktionieren, weil sie sich nicht auf einen bestimmten, dogmatischen Gehalt reduzieren lassen.

Letzte Frage: Ist die Kunst nicht selbst eine Wunde, in der Gesellschaft?
Hoppe-Sailer:
Ja.

„Deine Wunden“ | bis 31.8. | Situation Kunst, Bochum | 0234 298 89 01

Richard Hoppe-Sailer (li) und Reinhard Hoeps. Foto: Peter Ortmann

Prof. Dr. Richard Hoppe-Sailer
Studium der Kunstgeschichte, Germanistik, Publizistik und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. 1980 Promotion mit einer Arbeit zur mittelalterlichen Architektur (St. Maria zur Wiese in Soest). 1998 Habilitation an der Universität Basel („Gut ist Formung. Schlecht ist Form.“ Zum Problem des Naturbe­griffs bei Paul Klee). Seit 2000 Professor für Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum.

Prof. Dr. Reinhard Hoeps
Arbeitsstelle für christliche Bildtheorie, Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Münster, 1974-80 Studium der katholischen Theologie, Philosophie und Kunstgeschichte in Bonn und Bochum. Promotion, Habilitation. Seit 1993 Professor für Systematische Theologie und ihre Didaktik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Leiter der Arbeitsstelle für christliche Bildtheorie, theologische Ästhetik und Bilddidaktik.

INTERVIEW: PETER ORTMANN

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